Kunstunterricht im Kontext digitaler Medien

Ein neues Positionspapier des BDK (Bund)

Diese Positionsbestimmung wurde auf der Hauptversammlung im September2020 beschlossen und ersetzt das 2001 beschlossene Positionspapier“Digitale Medien und Kunstunterricht“ (BDK-Mitteilungen 3/2001, S. 42-45)

Mit der Einführung des Computers, des Internets und mobiler Endgeräte hat ein medien-und kulturhistorischer Wandel begonnen, dessen Bedeutung mit der Etablierung von Buchdruck und Zentralperspektive vergleichbar ist. Digitale Medien werden heute in nahezu allen Lebensbereichen selbstverständlich und regelmäßig genutzt. Sie sind untereinander und mit technischen Gebrauchsgütern vernetzt. Zunehmend durchdringen sich reale und virtuelle Erfahrungs-und Aktionsräume. Dadurch verändern sich Wahrnehmungsweisen, Kommunikationsformen und Referenzsysteme. Kennzeichnend für die gesellschaftliche und kulturelle Dimension des Digitalenistdabei die stetig wachsende Produktion, Verbreitung und Rezeption von Bildern, die insbesondere für die Lebenswelt und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine prägende Rolle spielen. In Bildern und im Umgang mit ihnen artikulieren und entwickeln sich Vorstellungen und Handlungsformen, denen jeweils spezifische Welt-und Selbstbilder, soziale Verhältnisse und ethische Einstellungen zugrundeliegen. Daher muss sich eine zeitgemäße Kunstpädagogik einerseits auf etablierte und bewährte Prinzipien stützen und andererseits technologische Entwicklungen und deren kulturelle Dimensionen aufmerksam verfolgen, analysieren und in angemessener Weise in Bildungsprozesse integrieren.

Kunstunterricht im Kontext digitaler Medien darf nicht auf das Technische fixiert sein, sondern muss vor allem eine fachliche, inhaltliche und pädagogische Ausrichtung aufweisen. So ist er in der Lage, digitale Möglichkeiten konstruktiv zu nutzen und zugleich kritisch zu reflektieren. Er hat auch zukünftig substanzielle nicht-digitale Anteile und fördert als zentraler Ort kultureller Bildung den leiblich-sinnlichen Weltbezug mit multisensorischen künstlerischen Arbeitsprozessen.Digitale Medien erweitern die Gestaltungsmöglichkeiten im UnterrichtBildungsprozesse beziehen sich auf das Individuum selbst, aber auch auf das Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt und zu anderen Individuen.Perspektivwechsel, Distanznahme und Kritikfähigkeit sind dabei ebenso wichtig wie die aktive Gestaltung der persönlichen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Kunstunterricht eröffnet hier fachspezifische Möglichkeiten, die sich im Zusammenwirken von Rezeption, Produktion und Reflexion entfalten. Er lässt eigenständige Lösungswege und prozesshafte Arbeitsweisen wirksam werden. Die Verwendung digitaler Medien kann dem in besonderer Weise Rechnung tragen. Beispielsweise zeigen digitale Fotoapparate und Filmkameras ihre Bilder sofort nach der Aufnahme auf dem Display und ermöglichen kurzfristig und situationsbezogen vergleichendes Sehen, Reflektieren und Neugestalten. Unterschiedliche Zustände und Veränderungen eines Bildes bei der digitalen Bildbearbeitung werden in verschiedenen Versionen gespeichert, verglichen und beurteilt. So können Alternativen entwickelt werden, ohne bereits erreichte Zwischenergebnisseendgültig verwerfen zu müssen. Wenn Schülerinnen und Schülernihre Arbeitsprozesse mit Hilfe digitaler Werkzeuge dokumentieren, schärfen sie ihr Wahrnehmungsverhalten.Digitale Medien erfordern experimentelle Zugänge undeine kritisch-konstruktive HaltungExperimentelles Spiel und Zufallsverfahren sind schöpferische Lernstrategien, die mit digitalen Medien im Kunstunterricht Anwendung finden. Ein Crossover von analogen und digitalen Verfahrensweisen, ein „gegen den StrichBürsten“ und „gegen den Apparat Spielen“ im Umgang mit Computerprogrammen und mobilen Endgeräten kann produktive Fehler erzeugen und algorithmische Glätte entlarven. Das ästhetische Moment liegt in der spielerischen Erprobung und in der fantasievollen Manipulation digitaler Technologien, die Kinder und Jugendliche in ihrer Lebenswelt sonst meist nur entsprechend vorgegebener Zweckbestimmungen kennen und nutzen. Eine solche Auseinandersetzung mit digitaler Produktion ermöglicht die Reflexionder Glaubwürdigkeit von Medienund ihrer Bilder. Sie fördert Handlungsfähigkeit, Widerständigkeit, Mündigkeit und die Ausbildung einer kritisch-konstruktiven Haltung. Digitale und analoge Verfahren ergänzen sich wechselseitig Für Lernende ist es aus entwicklungspsychologischer Sicht wichtig, dass ästhetische Erfahrungen mit unterschiedlichen Medien und in verschiedenartigen Ausdrucksformen, Erlebnis-und Gestaltungsprozessen gemacht werden können. Analoge Verfahren und die mit ihnen verbundenen multisensorischen Sinneseindrücke, Materialerfahrungen und haptisch-manuelle Handlungen sowie der menschliche Körper als Bezugsgröße sind konstitutive Bestandteile des Kunstunterrichts, weil sie in hohem Maße nachhaltige und individuell bedeutsame Erkenntnis-und Lernprozesse ermöglichen.

Digitale Technologien werden im Unterricht insbesondere dann relevant, wenn sie ästhetische Prozessefördern. In derVerbindungvon digitalen und analogenVerfahren liegt die Chance, tradierte kunstpädagogische Konzepte, Arbeitsfelder und Verfahrenweiter zu entwickeln. Digitale Bildproduktion und BildrezeptionDigitaleProduktion und Verbreitung von unbewegten und bewegten Bildern istin der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen weitreichend verankertund durchbrichtdas tradierte Rollenverständnis von Sender und Empfänger. Mit der zunehmenden Nutzung digitaler Endgeräte zur Kommunikation haben sich auch Bildverständnis und Bildfunktionen stark verändert. Das einzelne Bild hat tendenziell weniger Bedeutung, während die soziale Dimension der Bildverbreitung an Relevanz gewinnt: Es zählt, wer es wann, wo und mit wem sehen, kommentieren und bewerten kann. Kunstunterricht bietet die Möglichkeit, digitale Bildpraxenauf Bildtraditionen und Bildkonventionen zu beziehenund damit gesellschaftliche Veränderungen und ethische Fragen in den Blick zu nehmen. So kann reflektiert werden, dass und inwieweit in die gegenwärtige Nutzung digitaler Bilder und deren Produktion einerseits kunstgeschichtliche Traditionen hineinwirken, während sich andererseits neue, digital geprägte Bildgenerierungs-und Wahrnehmungsprozesse und damit verbundene Intentionen, Interaktionen und soziale Relationen etablieren.Digitale Geräte und Werkzeuge zur Eigenart des Kunstunterrichts gehört eine inhaltliche und methodische Auseinandersetzung mit verschiedenartigen, tradierten und jeweils neuen Medien, Geräten und Werkzeugen. Digitale Medien, Medieninhalte und Nutzungsweisen können im Kunstunterricht hinsichtlich ihrer spezifischen Darstellungsmodi, Ästhetikenund Verwendungenthematisiert und in ihrem Verhältnis zu tradiertenanalogenVerfahren wie dem Zeichnen, Malen, Plastizieren, Fotografieren oder Filmen analysiert werden. So werden beispielsweise historische Parallelen bei der Einführung ehemals neuer Medien (z.B. Fotoapparat, Filmkamera) zu heutigen digitalen Medien (z.B. Smartphone) erkennbar.Analogeund digitale Durchdringung von WirklichkeitenGerade in der Verschränkung von analogen und digitalenWirklichkeiten liegt kunstpädagogisches Potenzial, denn in den Berufsfeldern Kunst, Design und Architektur wird kultureller Wandel reflektiert und aktiv gestaltet. Neben Augmentedund Virtual Reality sind auch Formen wie Cultural Hacking entstanden, das auf der Grundlage genauer Kenntnisse des „Codes“ in diesen eingreift und ihn in künstlerischer Weise umbaut. Auf diese Weise entstehen kritische Kommentierungen und Umprogrammierungen, die unmittelbar in den kulturellen Alltag zurückwirken. DigitaleMedien förderninnovatives Denken und kreative ProblemlösestrategienIn gesellschaftlichen Debatten zum digitalen Wandel wird regelmäßig ein kreativer und innovativer Umgang mit technischen und medialen Entwicklungen gefordert. Das Unterrichtsfach Kunst ist genau dazu prädestiniert, da die Förderung der dafür notwendigen, individuellen Kompetenzen und Einstellungen traditionell zum Selbstverständnis des Faches gehört.

Kunstunterricht vermag deutlich über die Vermittlung instrumenteller und anwendungskonformer Fertigkeiten hinauszugehen sowie einer affirmativen und lediglich konsumierenden Haltung entgegenzuwirken, indem Schülerinnen und Schülern Raum für eigensinnige produktive Strategien und ungewöhnliche Ergebnisse gegeben wird. Derartige Kompetenzen und Haltungen sind nicht zuletzt wichtig für zahlreiche neue, durch die Nutzung digitaler Medien geprägte Berufe, die grundlegende künstlerische und gestalterische Fähig-und Fertigkeiten im Bereich der ästhetischen Wahrnehmung undProduktion voraussetzen. Forderungenfür die Ausstattung von Räumen und Qualifizierungvon LehrkräftenEin in diesem Sinne zeitgemäßer Kunstunterricht benötigt instrumentell, technisch und medial gut ausgestattete, nachhaltig gewartete und aktuell gehaltene Fachräume sowie personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen.Es bedarf fachlich gut ausgebildeter Lehrkräfte mit einer offenen Haltung, Neugierde und Experimentierfreude. In Studium, Referendariat und Fortbildung sind adäquate Qualifikationen in Hinblick auf einen fachdidaktisch reflektierten Umgang mit einer durch digitale Technologien geprägten Kultur zu vermitteln. Die zunehmende Digitalisierung im Bildungsbereich im Sinne einer Ausstattung mit Hard-und Software und Bereitstellung einer zeitgemäßen IT-Infrastruktur, ist zwingend zu komplettieren mit einer Weiterentwicklung fachdidaktischer Konzepte, die theoriefundiert und praxisorientiert den hier genannten Arbeitsfeldern und Problemstellungen Rechnung tragen.Dazu bedarf esnicht zuletzt weiterer und nachhaltiger Mittel für kunstpädagogische Forschung und Lehre. Darüber hinaus ist die Erhöhung oder der Erhalt der Anteile des Faches Bildende Kunst in den Stundentafeln notwendig,um den zukünftigen Anforderungen im digitalen Wandel gerecht zu werden.