Begabung fördern – Für eine Gleichwertigkeit aller Fächer

Eine Positionierung des BDK e.V. Fachverbandes für Kunstpädagogik/ Landesverband Thüringen 

Begabungen bestimmen nach Françoys Gagné (2009) intellektuelle, kreative, sozioaffektive, aber auch sensomotorische Bereiche und entwickeln sich durch Übung zu „beobachtbaren Talente(n)“, beispielsweise in „Kunst, Sport, Kommunikation, Bildung, Wissenschaft“ (Neubauer 2015, 39). „Motivation, Ausdauer und Selbstdisziplin“ (ebd.) spielen eine zentrale Rolle, um Spitzenleistungen in diesen Feldern zu erbringen, die unser gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Handeln insgesamt beeinflussen. Bereits Ende der 1990er wird der Diskurs um den Fachkräftemangel durch den Diskurs zum „War of Talents“ begleitet (vgl. Ritz 2011), der die talentgebundenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt einschließt. Begabungsförderung muss daher im Sinne der Berufsqualifizierung ein Ziel der schulischen Bildung sein und bedarf unabhängig vom Schulfach einer Umgebung, die Förderung und Forderung einschließt, um gleichberechtigte Bildungschancen zu gewährleisten. Von Talentfächern im aktuellen Diskurs um das neue Schulgesetz in Thüringen zu sprechen, schließt demnach auch den gesamten Fächerkanon des deutschen Schulsystems ein, da Lernende durch die Heterogenität ihrer Begabungen den Unterrichtsalltag bestimmen und ein Recht auf individuelle Förderung dieser in ihrer Vielfalt haben. Notengebung bundesländerübergreifend und für alle Fächer vor diesem Hintergrund zu diskutieren und zu befragen, ob Lernentwicklungsberichte diese zukünftig ersetzen können, ist daher mit Blick auf die Förderung inklusiven Lehren und Lernens uneingeschränkt zu unterstützen. Noten aber in einigen wenigen Fächern in Frage zu stellen, steht einem ganzheitlichen humanistischen Bildungsverständnis und der Chancengleichheit in Bildungsprozessen entgegen. Hier scheinen sich eher politische wie ökonomische Beweggründe hinter den Forderungen zu verbergen, die Fächer Kunst, Musik und Sport dürften der Noten entbehren.

Der Lehrendenmangel wirkt sich aktuell vor allem in diesen Fächern besonders stark aus. Noten, die abiturrelevant sind, können nicht flächendeckend vergeben werden. Statt Lösungen für die Gewährleistung eines flächendeckenden Unterrichts zu entwickeln, scheint der Schritt naheliegend, die Noten abzuschaffen und damit die Notwendigkeit, Unterricht in diesen Fächern zu gewährleisten, aufheben zu können. Die Konsequenzen sind, wie bereits der Bundesverband Musikunterricht, der Thüringer Sportlehrerverband und der BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik herausgestellt haben, weitreichend. Sie kommen der Abschaffung der Fächer gleich, die bereits zu Pandemiebedingungen an vielen Thüringer Schulen erprobt wurde. Weder die Folgen des Bewegungsmangels für die kognitive, emotionale und physische Leistungsfähigkeit unserer Kinder- und Jugendlichen werden in Betracht gezogen, noch werden die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Kulturellen Kinder- und Jugendbildung (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01.02.2007 i. d. F. vom 08.12.2022) damit angemessen umgesetzt. 

Aktuell hat das BMBF eine Förderbekanntmachung für den Aufbau bundesländerübergreifender Kompetenzzentren „für digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung in musisch-kreativen Fächern und Sport“ (BMBF 2022) ausgeschrieben. Damit wird auch auf die aktuell notwendig hohen Quer- und Seiteneinstiegszahlen in diesen Fächern und den hohen Fortbildungsbedarf reagiert. Die diskutierte Gegenstrategie der Abschaffung der Noten kommt jedoch einer Marginalisierung der Fächer im Fächerkanon gleich. Lernen ist nie allein intrinsisch motiviert, Anreize von außen sind damit unverzichtbar. Das aktuelle Schulsystem nutzt (auch) das Instrument der Notengebung, dass zur Motivationsförderung und einer ausdauernd proaktiven Haltung in allen Fächern gleichermaßen von Relevanz ist. Diese für einzelne Fächer auszusetzen, wird die ganzheitliche Förderung von Begabung massiv erschweren und perspektivisch zur Abschaffung dieser Fächer führen. Damit einher geht in der Perspektive nicht nur die Infragestellung der Lehrendenbildung in diesen Fächern in Thüringen, sondern der nachwachsenden Generation für die Kreativwirtschaft insgesamt. Ohne gut qualifizierte Schüler*innen gibt es keinen Nachwuchs in Architektur, Gestaltung, Kunst, Kultur und der Kreativwirtschaft. Gerade Thüringen profitiert von dieser ebenso maßgeblich wie von seinem umfangreichen Kulturerbe, für dessen Rezeption und Aneignung es zu sensibilisieren gilt. Insofern muss es uneingeschränkter Auftrag von Schulen in Thüringen sein, insbesondere Begabungen zu erkennen und durch Anreize zu fördern, um Potentiale für die Zukunft des Freistaates freizusetzen und nicht zu hemmen.

Das Fach Kunst leistet viel mehr, als nur für den Umgang mit visuellen Ausdrucksformen, die die Kommunikation in unserer Gesellschaft maßgeblich bestimmen, eine Orientierung zu bieten. Es erzieht in der Begegnung mit dem Unbekannten zu Toleranz, die ein uneingeschränkt wichtiges Gut in unserem heutigen gesellschaftlichen und politischen Miteinander darstellt. Es fördert den mündigen Umgang mit Kulturerbe, dessen historischen Einschreibungen und Neuinterpretationen in dekolonialen, rassismus-kritischen Diskursen und es fördert die Fähigkeit zur Teilhabe in demokratischen Prozessen durch die intensive Auseinandersetzung mit politischen, gesellschaftlichen und ökologischen Frage- und Problemstellungen unserer Zeit. Die Notwendigkeit, sprachalternativen Formen der Wissenskommunikation Ausdruck zu geben, spiegelt sich in der bildbasierten Kommunikation in den sozialen Medien. Bilder müssen gelesen werden können, um ihre manipulative Wirkung zu entkräften. Und es bedarf der kritisch-reflexiven Schulung zu ihrer Entstehung, um alternative Ausdrucksformen für bestehende Fragen unserer Zeit entwickeln zu können – sei es in Kampagnen oder originär künstlerischen Statements, die den Diskurs befördern. Die documenta 15 in Kassel hat gezeigt, welche politische Brisanz die Kunst in sich trägt, vor allem aber, dass künstlerische Strategien weit über das „Bildermachen“ hinaus gehen. Das Fach mit der Notenabschaffung zu einem Randfach zu degradieren, hat damit politische Folgen, die sich weit über das Schulsystem hinaus auswirken. 

Nicht zuletzt hätte die Abschaffung der Noten in den Fächern Kunst, Musik und Sport eine Nichtgleichbehandlung in den Bildungschancen der Schüler*innen zur Folge, die sich auch auf die Bewerbung über die Grenzen des Bundeslandes Thüringens hinaus auswirken. Gerade für jene Schüler*innen, die weniger Begabung in den kognitiven Fächern mitbringen, sind diese Noten abschlussrelevant, weil sie ihren Notendurchschnitt maßgeblich beeinflussen können. Die Notenabschaffung ist daher aus unserer Sicht verfassungswidrig und sollte kein Bestandteil der anstehenden Schulreform in Thüringen sein. Als kleines Bundesland sollte Thüringen mit einem herausragenden Bildungssystem punkten und nicht mit einem rein wirtschaftlich begründeten Sparmodell. Es sollte priorisierend als Kulturland für die kulturelle und ästhetische Bildung der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen einstehen und in dieser Förderung ein uneingeschränkt wichtiges Potential für die demokratische Stabilität erkennen. „Die Verwirklichung der Demokratie ist die primäre Aufgabe der Kunst in der Gesellschaft“ (Joseph Beuys).

https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/bekanntmachungen/de/2022/12/2022-12-06-Bekanntmachung-digitales-Unterrichten.html?view=renderNewsletterHtml

Gagné, Françoys (2009): Talent development as seen through the differentiated mo- del of giftedness and talent. In: Balchin, Tom; Hymer, Barry & Matthews, Dona J. (Hrsg.): The Routledge International Companion to Gifted Education. New York. 

Aljoscha C. Neubauer (015): Begabungsentwicklung und Kreativität aus Sicht der Neurowissenschaften. In:  Aljoscha C. Neubauer S. 37-53 in Gerlinde Mehlhorn/Karola Schöppe/Frank Schulz (Hrsg.) Begabungen entwickeln & Kreativität fördern . München 2015

A. Ritz, N. Thom (Hrsg.), Talent Management. Wiesbaden 2011

Statement des Bundesverband Musikunterricht I Landesverband Thüringen

https://www.openpetition.de/petition/online/fuer-den-erhalt-der-schulnoten-in-musik-kunst-sport-in-thueringen