Kulturelle Bildung nicht zur Nebensache machen
Der BDK Niedersachsen e.V. nimmt kritisch Stellung zur vom Kultusministerium vorgestellten Reform der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe. Die bekanntgegebenen Eckpunkte werfen aus Sicht des BDK erhebliche Probleme auf. Insbesondere die kulturelle Bildung droht einseitig geschwächt zu werden.
Die geplante Stundentafel der Einführungsphase reduziert die musisch-künstlerischen Fächer (Kunst, Musik, Darstellendes Spiel) faktisch auf ein Minimum. Künftig sollen alle Schülerinnen und Schüler aus dem Aufgabenfeld A verpflichtend lediglich ein einziges musisches Fach belegen – und das mit nur zwei Wochenstunden. Bisher war es möglich, sowohl Kunst als auch Musik oder Darstellendes Spiel in Jahrgang 11 zu berücksichtigen, etwa epochal oder parallel. Die Reduktion der verpflichtenden Stundenzahl schmälert unweigerlich die Bedeutung der musischen Fächer wie Kunst in der Einführungsphase. Kulturelle Bildung erhält damit deutlich weniger Raum als bisher.
Die Beschränkung auf nur ein musisches Fach in Klasse 11 hat darüber hinaus unmittelbare Auswirkungen auf die Wahl der Prüfungsfächer in der Qualifikationsphase, denn ein Fach darf nur dann als Prüfungsfach gewählt werden, wenn es in der Einführungsphase mindestens ein Halbjahr belegt wurde – wer in der Einführungsphase z. B. ausschließlich Musik belegt, kann in der Qualifikationsphase Kunst nicht mehr als Prüfungsfach wählen. Die beabsichtigte Reform nimmt zahlreichen Schülerinnen und Schülern somit die Möglichkeit, später einen veränderten musisch-künstlerischen Fokus zu legen und engt damit die individuellen Bildungswege unnötig ein.
Allgemeinbildung braucht Vielfalt
Die fortschreitende Marginalisierung der Kunst stellt ein zentrales Bildungsversprechen nicht nur des Gymnasiums, sondern der Schulen in Niedersachsen insgesamt infrage: die Vermittlung kultureller Allgemeinbildung. Eine gymnasiale Oberstufe, die den musisch-kulturellen Fächerkanon ausdünnt, läuft Gefahr, ihrem Auftrag zur ganzheitlichen Bildung nicht mehr gerecht zu werden. Kulturelle Bildung ist ein grundlegender Bestandteil der Allgemeinbildung – sie darf nicht zur vernachlässigten Nebensache werden.
Anstatt der postulierten „Stärkung individueller Profilbildung“ entsteht in Wahrheit das Gegenteil: eine faktische Vorfestlegung, die spätere Schwerpunktverlagerungen verhindert. Schülerinnen und Schüler können die musischen Fächer kaum erleben und sich darin nicht angemessen erproben. Wer sich für Kunst entscheidet, wird Musik oder Darstellendes Spiel voraussichtlich nicht belegen – und umgekehrt. Damit entfällt die pädagogisch notwendige Exposition, denn: Eine bewusste und informierte Wahl kann nur treffen, wer unterschiedliche Optionen erfahren hat.
Trotz Bemühungen bleibt eine Schieflage im Fächerkanon
Hinzu kommt ein massives Ungleichgewicht in der Stundenverteilung: Während Religion und Sport im Pflichtbereich vollständig erhalten bleiben, ergänzt um eine neu eingeführte Stunde zur Berufsorientierung, kommen diese Fächer auf insgesamt fünf Wochenstunden. Die musischen Fächer hingegen werden mit nur zwei Wochenstunden veranschlagt – angesichts der bereits in der Sekundarstufe I angesetzten Kürzungen des Faches Kunst in der Stundentafel und des eklatanten Mangels an Fachlehrkräften, der weitere Defizite verursacht, ein weiterer schwerer Schlag.
Auch der sogenannte Wahlpflichtbereich II erweist sich bei genauerem Hinsehen als wenig flexibel. Sechs Wochenstunden scheinen zunächst Spielraum zur Individualisierung, z.B. durch die Wahl eines weiteren musischen Faches, zu eröffnen, werden in der Realität jedoch häufig durch Fremdsprachenbindung belegt. Selbst wenn in diesem Bereich theoretisch bis zu sechs Stunden als Schwerpunktsetzung in den musischen Fächern möglich wären, werden zahlreiche Schülerinnen und Schüler vor dem Hintergrund einer möglichst breiten Fächerwahl die verbleibenden Stunden auf die anderen Felder verteilen. Darüber hinaus scheint es unwahrscheinlich, dass Schulen aufgrund der organisatorischen Anforderungen und knappen personellen Ressourcen solche Fokussierungen ermöglichen können.
Zusätzliche musische Angebote werden damit zur Ausnahme, die vielbeschworene „Wahlfreiheit“ sowie die „gute fachliche und methodische Grundlage“ bleiben Behauptung.
Bildungsungleichheit wird verschärft
Besonders schwer wiegt, dass diese strukturellen Veränderungen nicht alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen treffen: Wer aus einem bildungsnahen und finanzstarken Elternhaus stammt, kann fehlende ästhetische Bildung durch Museumsbesuche oder kreative Freizeitangebote leichter kompensieren. Wer jedoch auf schulische Bildungsangebote angewiesen ist, geht leer aus. Damit verschärft die Reform die soziale Bildungsungleichheit deutlich, anstatt sie abzubauen.
Schließlich ist auch die langfristige Perspektive problematisch: Wird der musisch-kulturelle Bereich in der Einführungsphase reduziert, werden zwangsläufig die Anwahlzahlen für Leistungskurse sinken. Schon heute gelingt es Schulen oft nur knapp, diese anzubieten. Fällt die Grundlage weg, droht das Sterben der musischen Fächer auf erhöhtem Niveau. Dieser Verlust wäre ein bildungspolitisches Armutszeugnis, ein Bruch mit dem Anspruch gleichwertiger Bildungswege und vor allem ein Widerspruch zum Gedanken einer umfassenden humanistischen Bildung.
Unsere Forderung
Der BDK Niedersachsen e.V. fordert mit Nachdruck, die Reform in ihrer jetzigen Form nicht umzusetzen. Sie führt – anders als postuliert – zu einer einseitigen und unnötigen Schwächung der kulturellen Bildung und damit zu einer Verengung der individuellen Bildungswege, da mit dem musisch-künstlerischen ein wichtiger Profilbereich nicht mehr in der Breite wählbar ist. Von „mehr Freiraum“ kann keine Rede sein, solange strukturell die kreativen Fächer durch eine erzwungene Wahl benachteiligt werden. Diese dramatische Einschränkung könnte zumindest durch eine epochale Verankerung von Musik und Kunst in der Stundentafel verhindert werden. Hierfür wäre eine grundsätzliche Beibehaltung des Klassenverbandes in Jahrgang 11 notwendig, auch, um die durch diese verfrühte Einführung des Kurssystems dramatischen Folgen wie unbotmäßig aufgeblähte Stundenpläne und deren Folgen sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für Lehrkräfte zu verhindern.
Der BDK bedauert außerordentlich, dass die Reform den hochgesteckten Zielen eines vielfältigen, schülerzentrierten Oberstufensystems mit einem Anspruch auf breite und demokratische Allgemeinbildung auf diese Weise nicht gerecht wird.
Tina Lucht
Landesvorsitzende des
Fachverbands für Kunstpädagogik Niedersachsen e.V. (BDK)
Dezember 2025
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Stellungnahme als PDF-Datei